Beobachtungen und Rückmeldungen in der tierärztlichen Praxis, deren Auswirkungen Tierschutz-relevant werden können oder schon sind. Ist der Tierarztbesuch noch bezahlbar? Wer kann sich noch ein Haustier leisten? Ist Tierhaltung zum Lebensunterhalt noch darstellbar? Sind Tierarzt/Tierärztin noch ein „freier Beruf“? Ein Beruf der Zukunft? Wie können wir darauf einwirken, dass Tiermedizin nicht zum Geschäft verkommt, sondern eine Berufung bleibt, die existenzsichernd ist und von einem ethischen Grundgedanken geleitet wird?
Es häufen sich in den letzten Monaten Vorkommnisse im tierärztlichen Alltag und bei den Abrechnungsmodalitäten, die das Vertrauensverhältnis zwischen Praxen/Kliniken und den Tierhaltern erheblich belasten. Horrende Rechnungen für alltägliche Probleme und der Aufbau von psychischem Druck von Seiten von Tierärzten und Kliniken führen dazu, dass Tiere nicht behandelt werden und damit zu Tierschutz-relevanten Situationen für die Tiere.
Es gibt vier Entwicklungsstränge, die zu der jetzigen, in meinen Augen dringend zu beachtenden Lage geführt haben.
Die GOT-Anpassung vom November 2022
Diese Änderung war angezeigt nach so langer Zeit und hat einige neue Positionen aufgenommen, die vorher nicht oder nur teilweise abgerechnet wurden. Die preisliche Erhöhung ist meiner Meinung nach gar nicht so relevant, da auch vorher bei gutem wirtschaftlichem Überblick eine sich rentierende Liquidation und Praxisführung möglich war. Allein die Diskussion um die GOT-Anpassung und das Gefühl der Tierärzte, sich jahrelang unter Wert verkauft zu haben, hat scheinbar dazu geführt, dass bei manchen Tierärzten das Augenmaß verloren ging und jetzt alle Dämme gebrochen sind. Die Folge sind Rechnungen für alltägliche Routinebehandlungen, die sich teils verdreifacht haben und mit der GOT- Anpassung gerechtfertigt werden – und das zu normalen Praxiszeiten, nicht während des Notdienstes. Für Operationen, deren Notwendigkeiten zumindest teilweise diskussionswürdig sind, müssen Kredite aufgenommen werden. Die Tierhalter können nicht mehr einschätzen, was bei einem Besuch auf sie zukommt. Folgen sind ein Vermeidungsverhalten, Abwarten, das Internet oder Bekannte befragen, Selbstmedikation und das Aufsuchen von Laien-Behandlern. Alte, auf Medikamente angewiesene Tiere werden immer öfter ins Tierheim gegeben, Großtiere verwahrlosen oder werden verkauft.
Ausverkauf der Tierarztpraxen und Kliniken an Großkonzerne und andere Wirtschaftsunternehmen
Dass der Verkauf von inhabergeführten Praxen seit Jahren still und leise geschehen konnte, ohne die Berufspolitik aufzurütteln, ist das eine. Das andere ist die demographische Entwicklung dahin, dass immer mehr Frauen mit Doppelbelastung von Familie und Beruf die tierärztliche Arbeit – oft in Teilzeit -verrichten. Auch die gesellschaftliche Entwicklung hin zu mehr „Life-Work-Balance“ reduziert die Ambitionen, sich selbstständig zu machen und Verantwortung zu übernehmen, und leistet damit der Übernahme von Praxen durch Wirtschaftsunternehmen Vorschub. Eine vorausschauende Politik, diese Entwicklungen aufzufangen, um die tierärztliche Versorgung durch freie Praxen und Kliniken aufrecht zu erhalten, fehlt. Tierarzt ist ein „Freier Beruf“ mit ethischen Grundsätzen, er entwickelt sich zum Marionettendasein am Gängelband von Profiteuren. Das ökonomische Verhalten dieser Konzerne zeigt sich höchst unethisch und nicht immer Sinne der Patienten. Es werden regelmäßige Umsatzsteigerungen von den Geschäftsführern der Praxen verlangt, die durch höheren Umsatz pro Patient generiert werden sollen. Angeschaffte Geräte müssen sich rentieren, müssen entsprechend oft pro Tag im Einsatz sein. Wenn die medizinische Notwendigkeit zu einer Diagnostik nicht vorliegt, wird sie erschaffen. Dazu kommt die Einführung von Standart Operation Procedures (SOP), die die Versicherer und Gerichtsbarkeiten aus dem Humanbereich übernommen haben. Auch hier wird die Freiheit unseres Berufes durch fachfremde Instanzen beeinflusst und reglementiert. Dieses Verhalten der konzerngeführten Praxen, gepaart mit einer hochprofessionellen Marketing-Strategie und scheinbar kompetenten Auftreten in der Öffentlichkeit, scheint zur Nachahmung anzuregen. Jeder will ein Stück vom großen Kuchen abhaben, den die Konzerne angeschnitten haben. Dass von solchen Interessen geleitete Kliniken und Praxen den überwiegenden Teil der Notdienste am Wochenende und in der Nacht bestreiten, macht sie unantastbar. Nun beginnt auch schon das Aufkaufen der veterinärmedizinischen Labore. Auch hier wird bald keine freie Wahl mehr möglich sein. Ich frage mich: Wo bleibt in solchen Praxen Raum – und Intention – für Ethik im Handeln und Tun? Wie wird der tierärztliche Nachwuchs dazu hingeführt?
Wie definiert sich tierärztliches Können?
In meiner Ausbildung fing jede Therapie mit einer gründlichen klinischen Untersuchung an, unter Zuhilfenahme aller Sinne – Hören, Sehen, Fühlen, Riechen und Tasten. Dazu kam dann Erfahrung durch Hospitanzen, Praktika, Eigeninitiative und Assistenzzeiten. Wenn das nicht zu einer Diagnose oder Einschätzung einer schwierigen Situation reichte, wurde eine zusätzliche Untersuchung (Blut, Röntgen, Ultraschall) angeordnet. Immer in Absprache mit den Haltern und in Vermeidung eines zusätzlichen Stressmomentes für das Tier.
Anders heute: es scheint bei den Kollegen in profitorientierten Kliniken keine Diagnosestellung mehr ohne großes Blutbild, digitales Röntgen, Ultraschall und gerne noch MRT mehr möglich zu sein, selbst bei z.B. lapidaren Durchfällen, Lahmheiten, oder altersbedingten Herzerkrankungen. Dazu kommt eine maximale Medikamenten-Verabreichung, oft ohne Berücksichtigung der Nebenwirkungen, Wechselwirkungen oder Unverträglichkeiten. Erwartete Probleme werden mit weiteren Medikamenten unterdrückt. Für mich stellt sich das sehr oft wie eine pharmakologische Vergewaltigung eines Lebewesens dar, welches sich nicht wehren kann. Auch der Halter kann sich kaum wehren, ist er doch Laie, ist er doch in Sorge und Not. Ein Vertrauensverhältnis zu stetig wechselnden Tierärzten in größeren Praxen (es gibt Fälle, wo 5 TÄ ein Tier mit einem Problem fünf mal anders behandeln) ist kaum noch möglich. Auch wird mittlerweile häufig eine voraussetzende Vollmacht verlangt, dass mit dem Tier alles gemacht werden darf, wenn es als Patient aufgenommen wird. Oder es wird verlangt, dass vor der Behandlung eine größere Summe auf den Tisch gelegt werden muss, bevor überhaupt jemand nach dem Tier sieht. Unterschwelliges „Drohen und Angsterzeugen“, wie „wenn Sie das Beste für Ihr Tier wollen, dann müssen wir das so machen…“, oder „Wenn Sie diese Untersuchung nicht möchten, können wir nicht garantieren, dass Ihr Tier das übersteht…“ sind leider üblich in der Kommunikation. So wird mit der Angst und Unsicherheit der Tierhalter Kasse gemacht. Auch hat sich die unsägliche Vorgehensweise, das Tier ohne den Halter zu untersuchen und zu behandeln, etabliert. Tierhalter und die Kommunikation mit ihnen sind lästig. Es gibt viele Studien dazu, wie traumatisierend das für Tiere sein kann. Das rechte Augenmaß und die Verhältnismäßigkeit der Mittel sind verloren gegangen.
Quo vadis Tiermedizin?
Die Grundlage aller Medizin war und ist immer die Natur. Während den 30 Jahren meiner tierärztlichen Tätigkeit hatte ich das Glück bei vielen Kollegen und Kolleginnen lernen zu können, die andere Wege gegangen sind. Ich möchte hier einmal Sir William Osler zitieren: „Die (tier)ärztliche Praxis ist eine Kunst, kein Handelsgeschäft, eine Berufung, kein Laden; eine Erwählung, die das Herz ebenso wie den Kopf fordert“.
Die heutige Medizin hat sich von der Natur sehr weit entfernt – soweit, dass ein Verständnis für die Genialität eines sich regulierenden Organismus abhandengekommen ist. „Moderne Medizin“ heißt, die Suche in immer kleiner werdenden Teilstrukturen nach der vermeintlichen Ursache einer Erkrankung und deren Bekämpfung mit Mitteln, die nicht nur diese Kleinststrukturen, sondern den ganzen Organismus in Mitleidenschaft ziehen. Dazu kommt der Glaube an immer kompliziertere Technik und nun auch noch KI. Ist es das, was wir uns für die Tiermedizin wünschen? Ist es das, was sich die Tierhalter für ihre Tiere wünschen? Macht das wirklich Gesundheit aus?
Ich möchte betonen, dass ich keine pauschale Kollegenschelte betreibe. Es gibt noch sehr viele Tierärzte, die ihren Beruf als Berufung sehen und bei denen der Grundsatz „in dubio pro animale“ Alltag ist. Aber es stellt sich die Frage: Wie lange noch?
Naturheilverfahren als Perspektive
Alle Disziplinen der Naturheilverfahren könnten einen wertvollen Beitrag leisten, um die oben genannten Zustände zu vermeiden, zu verbessern. Sie lehren einen respektvollen Umgang mit den beteiligten Lebewesen und ihren Möglichkeiten, mit dem anvertrauten Patienten und seinem Menschen – sei es in der Nutztier- oder Klein- und Heimtierhaltung. Naturheilverfahren sind nebenwirkungsarm und rückstandsfrei. Es gibt keine Grundwasserkontamination mit Antibiotika, Hormonen, oder Chemotherapeutika. Sie fördern Gesundheit und verwalten nicht nur Krankheit. Sie sind deutlich kostensparender, stressärmer bei Diagnose und Therapie und damit tierschutzfreundlicher. Sie sind eine Hommage an die Genialität der Natur, in der es für alles einen Ausgleich gibt, gegen alles ein Kraut gewachsen ist.
Sie können eine perfekte Synergie mit der konventionellen Medizin ergeben, zu deutlicher Reduktion der benötigten Chemotherapeutika führen und durch den präventiven Einsatz die Entstehung von Krankheiten minimieren.
Wie steht es um die Anerkennung der Naturheilverfahren in der Tiermedizin? Wieviel wird an den Universitäten dazu gelehrt? Wird an den Universitäten dazu geforscht? Werden Dissertationen zu diesen Themen vergeben? Wie viele Ausbildungsbetriebe gibt es? Wieviel Firmen gibt es, die diese Produkte herstellen? Welche politische Unterstützung gibt es für die Naturheilkunde? Warum werden im Angesicht der existierenden Probleme diese Disziplinen nicht gefördert? Und hier schließt sich der Kreis zu den oben genannten Situationen.
Was könnte die Situation der Tiermedizin verbessern?
- Regelmäßige Ethik-Unterrichtseinheiten während des gesamten Tiermedizinstudiums unter Einbeziehung des Themas Finanzen
- Ethik zusammen mit Tierschutz als Fach im Staatsexamen
- Regelmäßige Weiterbildungsverpflichtung zu Tierschutz und Ethik nach dem Studium
- Unterstützung von Tierärztinnen als Gründerinnen von Praxen durch die LTK und BTK (Finanziell durch geringere Beiträge, Rentenzuschüsse, Mentoren, neue Praxiskonzepte ect.)
- Ermutigung und Unterstützung von jungen TÄ, die Praxen übernehmen wollen (s.o.)
- Marketing- Konzepte zur Bewerbung unseres Freien Berufes und des Glückes, Tierarzt zu sein, Hervorhebung der Bedeutung des Berufes für die Gesellschaft
- Keine Kooperationen mit Großkonzernen durch TÄ-Verbände und gesetzliche Einschränkung deren Einflussnahme, beruhend auf dem Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz. Oder aber ein unbedingtes „In die Pflicht nehmen“ dieser Firmen, ethische Konzepte umzusetzen
- Aufnahme der Naturheilverfahren in die tiermedizinische Ausbildung, Förderung, Forschung und politische Unterstützung
- Berufspolitisches Engagement, um eine Unterscheidung zwischen Humanmedizin und Tiermedizin auf juristischer Ebene zu erhalten und die fachliche Expertise von Tierärzten hervorzuheben.
- Berufspolitisches Engagement, um Tierhalter besser zu informieren: über die Bedürfnisse ihrer Tiere, über Haltung und Ernährung, über Prävention von haltungsbedingten Leiden und Schäden, über zu erwartenden Kosten und über die wichtigsten Gründe einen Tierarzt aufzusuchen.